"Das wirkliche Wunder besteht nicht darin, über das Wasser oder durch die Luft zu schreiten.

Es besteht ganz einfach darin, über diese Erde zu gehen."

 

  (Thich Nnat Hanh))

 

 


 

Erkundung

 

Bevor ich andere zu einer Wanderung mit mir einlade, gehe ich die geplante Strecke möglichst vorher mal allein ab. Das erspart mir unliebsame Überraschungen, wenn ein Weg zwar auf der Karte oder in einer App vorhanden ist, in Wirklichkeit aber nicht begehbar ist. Mal versperren umgestürzte Bäume den Weg, mal ist ein Weg wegen Forstarbeiten gesperrt und mal ist der Weg einfach verschwunden. Mal ist die Strecke in der Realität eher langweilig, Ausblicke bereits zugewachsen und manchmal sind Pfade zu herausfordernd für einen Teil der potentiellen Mitwandernden. All das kann die Freude am Draußensein schnell schmälern und das Vertrauen in den „Wanderführer“ erschüttern. Die Lust an weiteren gemeinsamen Wandererlebnissen schwindet dann schnell und irgendwann bin ich nur noch allein unterwegs. Dies zu vermeiden, bin ich heute zu einer Erkundung in den Harz aufgebrochen. Der Wetterbericht sagte für den frühen Nachmittag ergiebigen Regen mit Blitz und Donner voraus, aber bis dahin wollte ich längst wieder zurück sein. Nun verzögerte sich der Start allerdings und als ich losging war die Sonne bereits hinter dunklen Wolken verschwunden. Mein Vorhaben zu verschieben war keine Option. Zur Not könnte ich ja das Tempo erhöhen. Den ersten Teil des Weges war ich schon oft gegangen. Dann kam der Abzweig auf einen mir noch unbekannten Pfad und schnell wurde mir klar, dieses Stück wird den Kreis meiner Begleiterinnen und Begleiter eingrenzen. Die Steigung war sportlich und lang. Wenig Aussichtspunkte, die eine Verschnaufpause rechtfertigten. Oben angekommen hatte ich eine gute Aussicht in Richtung des weiteren Wegverlaufes.

 

Manche Menschen spüren den Regen,

andere werden einfach nur nass.

(Bob Marley)

 

Dort, wo das Ziel lag, regneten dicke Wolken gerade ihre nasse Last ab. Als begeisterter Leser von Christian Sauer’s Liebeserklärung an das Wetter wie es ist* war mir jedoch nicht bange. Ich hatte Regenkleidung dabei, die Luft war immer noch sehr mild und das Gewitter in weiter Ferne. Weiter auf schmalen, fast zugewachsenen Pfaden hieß ich die ersten dicken Tropfen willkommen. Beim Abstieg ins Tal wurde der Regen heftiger, sodass jetzt doch die Regenjacke zum Einsatz kam. Die Blätter der knorrigen Traubeneichen schützten mich vor den dicksten Tropfen aber der Boden des sehr schmalen und steinigen Pfades war feucht und sehr steil, beinahe schon alpin. Langsam tastete ich mich hinab, jetzt nur nicht ins Rutschen kommen. Niemand wusste genau wo ich war und ein Unfall in diesem Gelände wäre fatal. Ein kleines, ungeplantes Abenteuer. Aber mir war klar, dass dieser Weg auch bei gutem Wetter für eine Wandergruppe keine Option ist. Bald war ich wieder in Sicherheit auf einem Forstweg. Die Forstarbeiter packten ihre Gerätschaften auf einen Anhänger und begrüßten mich amüsiert mit der Bemerkung: “Na, kein Wanderwetter heute.“ Sie hatten ja keine Ahnung, wie ich dieses Erlebnis genießen konnte. Als ich wieder beim Auto ankam, hatte es aufgehört so doll zu regnen und zumindest meine Unterwäsche war nicht nass vom Regen. Den Tourverlauf habe ich geändert. Die Strecke ist zwar ein klein wenig länger geworden, aber die herausfordernden Abschnitte habe ich entschärft. Nun kann ich ruhigen Gewissens meine wanderlustigen Freunde zu einer neuen Tour einladen.

 *Christian Sauer „Regen – Eine Liebeserklärung an das Wetter wie es ist“

Juni 2024


 

Das erste Mal im Leben

 

Erdbeeren, frisch vom Feld nebenan, habe ich gekauft. Heute Nachmittag werden wir sie uns als leckeren Obstkuchen mit Schlagsahne schmecken lassen. Bevor ich zurück in den alltäglichen Trubel fahre, gehe ich mit Mona zum gegenüberliegenden Waldrand hinauf. Eine kleine Auszeit, den Blick von oben in die Ebene schweifen lassen. Mona möchte am liebsten an jedem Grashalm ihre Nachrichten hinterlassen und so kommen wir nur langsam voran. So sollte es ja auch sein – sich ein paar Augenblicke lang treiben lassen. Am Waldrand angekommen, bleiben wir stehen und blicken auf die Landschaft vor uns. Auch Mona hört auf zu schnüffeln, setzt sich neben mich. Still ist es hier oben.

 

Und dann muss man ja auch Zeit haben,

 einfach da zu sitzen und vor sich zu schauen. (Astrid Lindgren)

 

Plötzlich richtet Mona sich auf, blickt nach links auf das hohe Gras, steht unbewegt wie eine Statue. Aus den schwankenden Grashalmen heraus tritt ein junger Dachs. Kaum fünf Meter entfernt geht er scheinbar völlig unbeeindruckt von unserer Anwesenheit über den Feldweg und verschwindet wieder im hohen Gras. Wir lauschen noch eine Weile dem leiser werdenden Rascheln. Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich einen Dachs in seinem Lebensraum sehe. Auch Mona hat für diesen faszinierenden Augenblick ganz vergessen, dass sie ein Jagdhund ist.

Als wir wieder ins Auto steigen, genießen wir den Duft der frischen Erdbeeren.

 Juni 2024


 

Anfang und Ende

 

Das alte Jahr verabschiedete sich bei mir mit meiner ersten Corona Erkrankung. Einen Tag vor Weihnachten gab ein Test jedoch grünes Licht, sodass die Feiertage nicht ohne mich stattfinden mussten. Hoffnungsvoll startete ich ins neue Jahr, trotzte dem Mistwetter und drehte hochmotiviert die erste Laufrunde. Hätte ich vielleicht nicht machen sollen, denn wenige Tage später lief die Nase wieder und kurz bevor ich zu meinem alljährlichen Schweigewochenende ins Kloster Marienrode aufbrechen wollte, stieg meine Körpertemperatur in den roten Bereich. Ein glatter Fehlstart. Unterstützt durch mieses Wetter verharrte mein Stimmungsbarometer in einem ortsfesten Tief. Heute, wo ich diesen Text schreibe, komme ich von einer Wanderung im Sonnenschein bei milden Frühlingstemperaturen zurück. In einem lichten Laubwald, der erfüllt von Vogelstimmen war, kann ich mich mit meinem holprigen Jahresbeginn versöhnen.

 

 

Einschlafen dürfen, wenn man müde ist, und eine Last fallen lassen dürfen, die man sehr lang getragen hat, das ist eine köstliche, eine wunderbare Sache.

(Hermann Hesse)

 

Ende Februar ist mein Schwiegervater im Alter von einhundert Jahren gestorben. Ein langes Leben, das zum Ende hin langsam aber stetig erlosch. Er blieb bis einen Tag vor seinem Tod in seinem Haus . In einer Patientenverfügung hatte er rechtzeitig geregelt, wie an seinem Lebensende verfahren werden sollte. So konnte er auch im Krankenhaus den letzten Schritt in Würde gehen. Wobei wirkliche Schritte zu gehen, ihm schon lange nicht mehr möglich war. Durch eine im Krieg erlittene Verwundung war er seit seinem neunzehnten Lebensjahr in seiner Mobilität eingeschränkt. Ich habe ihn als einen Menschen kennen gelernt, der dieses Schicksal angenommen hat. Er hat oft vom seiner Zeit als Soldat und der Verletzung erzählt, ich habe ihn jedoch nie klagen hören. In seiner ihm eigenen, mir oft umständlich erscheinenden Herangehensweise, hat mein Schwiegervater immer wieder Lösungen und Hilfsmittel gefunden, um mit seiner Behinderung zu leben. Als Dorfschullehrer hat er Generationen von Kindern geprägt. Aus Erzählungen weiß ich von seinem strengen Regiment, aber auch von seinem großem pädagogischem Gespür. Als fast Achtzigjähriger hat er sich einen Computer angeschafft, um damit die Chronik seines Dorfes zu verfassen. Er war der einzige mir bekannte Mensch, der sich das Computerwissen durch das penible Studium eines Handbuches angeeignet hat. Mit seinem skurril anmutenden Ordnungssinn hat er seinem näheren Umfeld oft Geduld und Langmut abverlangt. Für seine Enkel und Urenkel war er immer eine liebevolle Respektsperson, deren Rat gefragt war und manchem Lebenslauf die entscheidende Richtung gewiesen hat. Durch seinen langsamen Abschied und den deutlichen Phasen des Sterbens, hatten wir Angehörigen die Möglichkeit, jeder auf seine Weise, loszulassen. Besonders die drei Urenkel hatten die Chance, Fragen zu Sterben und Tod zu stellen. Den toten Urgroßvater im Sarg liegen zu sehen. Den kalten Körper zu berühren, das weiße Sterbehemd mit selbst gepflückten Gänseblümchen zu schmücken und letztlich die Urne in der Erde verschwinden zu sehen. Der Körper ist nicht mehr da und mit ihm verschwinden viele materielle Dinge eines langen Lebens. Aber wir haben eine kleine Sylvesterrakete, gefüllt mit guten Wünschen für die letzte Reise, in den Sonnenuntergang aufsteigen lassen und wir nehmen unsere individuellen Erinnerungen mit.

März 2024