"Das wirkliche Wunder besteht nicht darin, über das Wasser oder durch die Luft zu schreiten.

Es besteht ganz einfach darin, über diese Erde zu gehen."

 

  (Thich Nnat Hanh))

 

 


 

Gemeinsam durch die Nacht

 

Wir wollen gemeinsam durch die Nacht gehen. Aufbrechen, wenn andere ins Bett gehen, die Augen an die Dunkelheit gewöhnen, den Weg mit allen Sinnen wahrnehmen, ungewohnte Geräusche des nächtlichen Waldes hören, miteinander reden, miteinander schweigen, müde werden vom Wandern, mit dem Sonnenaufgang neue Kraft schöpfen, gemeinsam frühstücken.

 

Auf der Fahrt nach Drübeck regnet es bis Ilsenburg. Die Stimmung ist dennoch erwartungsvoll und zuversichtlich. Als wir auf dem Parkplatz des Klosters aus dem Auto steigen, ist es trocken, die Luft milder als erwartet und gleich wird der Mond zwischen den Wolken erscheinen. Auf dem Weg durch den Ort leuchten die Straßenlaternen. Um kurz nach dreiundzwanzig Uhr ist es schon still, sogar die Hunde scheinen bereits in ihren Körbchen zu schlummern. Kein Gebell begleitet unseren Weg. Im Wald angekommen, umfängt uns endlich die Dunkelheit. Wie verabredet verzichten wir auf Taschenlampen. Wir bleiben stehen und geben unseren Augen Zeit, sich an das fehlende Licht zu gewöhnen.

 

 

Man sieht nur, was vor den Füßen liegt. Bei Mondschein etwas mehr. Es lehrt, nur das zu beachten, was direkt vor einem liegt. Kein Gipfelblick, der ermutigen könnte, nur der nächste Schritt ist wichtig. Weitergehen, so weit man sehen kann, das genügt. “Leuchte für unsere Füße“ - nicht - „Leuchte für alles“, nur fürs Nächste.

 

Zu Beginn ist der Wald dicht, die Laubbäume verdecken bis auf einen schmalen Streifen den Blick nach oben und manchmal können wir den Weg mehr erahnen als sehen. Dafür scheinen unsere Ohren riesengroß geworden zu sein. Ab und zu bleiben wir stehen, um einem Geräusch nachzuspüren. Hat der Wind die Baumkronen bewegt, war es ein Wildschwein oder sind noch andere Wanderer unterwegs? Jetzt, wo das Sehen keine Chance mehr hat, schärfen sich jene ältesten Sinne – Hören, Tasten, Riechen – und die Phantasie lässt innere Bilder erscheinen. Als wir die Lichtung, die den Platz des ehemaligen Klosters Himmelpfort bezeichnet erreichen, wölbt sich ein Sternenhimmel über uns, und der abnehmende Mond leuchtet. Ein paar Bänke laden zur ersten Rast ein. Die mitgebrachten Teelichter verstärken die friedliche Stimmung. Kein Windrauschen ist zu spüren, kein Zivilisationsgeräusch dringt hierher. Erste archäologische Grabungen in diesem Jahr haben Spuren des ehemaligen Augustiner-Eremitenklosters wieder ans Tageslicht gebracht. Die Arbeiten sollen fortgesetzt werden, um die Geschichte des im Laufe der Bauernkriege zerstörten Klosters wieder greifbar werden zu lassen. Der „Lutherstein“ erinnert daran, das auch Martin Luther diesen Ort 1516 besucht hat. Bevor wir wieder aufbrechen, lassen wir die besondere Atmosphäre des Ortes, des Sternenhimmels und des Mondscheins auf uns wirken. Das folgende Wegstück gehen wir schweigend.

 

„In der Stille könnte es geschehen, dass wir von uns hören.“

 

Das bisher erlebte noch einmal bedenken, einfach mal die Klappe halten, sich nur um sich selbst kümmern. Bevor wir den Kastanienplatz erreichen, beenden wir die Schweigephase. Je höher wir gekommen sind, desto lichter ist der Wald geworden. Der eintönige Fichtenwald, der über Jahrzehnte das Bild des Harzes geprägt hat, verschwindet und gibt nun den Blick frei. Wir können das erleuchtete Schloss Wernigerode sehen und die Lichter vom Bahnhof Steinerne Renne erkennen. Noch ein Stück weiter bergauf, liegt dann deutlich sichtbar die Silhouette des Brockens vor uns. Bei der „Berliner Bank“, einer weitläufigen Lichtung, nehmen wir uns noch mal eine individuelle Zeit. Jeder sucht sich einen Platz, an dem er für sich sitzen und seinen Gedanken nachhängen kann. Ein leichter Wind geht hier, der Mond wird hin und wieder von schnell ziehenden Wolken verdeckt und auch hier eine wohltuende Stille. Nach etwa zwanzig Minuten brechen wir wieder auf, um in der Schutzhütte an der „Mönchsbuche“ eine längere Rast zu machen. Die frischer gewordene Luft und sicher auch eine leichte Müdigkeit lassen uns etwas frösteln. So bleiben wir nicht allzu lange dort und setzen unseren Weg durch die bald endende Nacht fort. Vorbei am Gedenkstein für Oberförster Koch und über den Pissekenplatz wandern wir das Tännbachtal hinab. Es wird immer heller, die Sonne wird bald aufgehen. Wir werden wieder wacher und gesprächiger. Einige dunkle Wolken bedecken den Himmel, aber kein Regentropfen traut sich heraus. Irgendwer oder irgendwas scheint eine schützende Hand über uns zu halten. Etwas früher als geplant erreichen wir unser Ziel. Die Anlage des Klosters wird von der Morgensonne in ein rötliches Licht getaucht, und in fast vollkommener Stille können wir diesen Ort auf uns wirken lassen. In der schon geöffneten Kirche sind wir ganz allein und beenden unsere spirituelle Wanderung durch den Harz bei Drübeck.

 

Bevor wir die Rückfahrt antreten, stärken wir uns bei einem leckeren Frühstück in der Klosterküche. Die freundlichen Mitarbeiterinnen haben uns müde Wanderer schon vor der offiziellen Öffnungszeit eingelassen. Vielen Dank dafür!

August 2023


 

Drei Generationen-Tour

 

Zum Geburtstag bekam ich einen Gutschein für eine Tour mit einem E-Mountainbike im Harz geschenkt. Damit ich nicht so allein durchs Gebirge radeln muss, wollten mein Schwiegersohn und mein ältester Enkel mich begleiten. Wie das mit Geschenkgutscheinen so ist, dauert es mit der Einlösung immer etwas. Mitte Juli fanden wir endlich einen passenden Termin. Da es ganz in unserer Nähe, im Bike- und Outdoorpark Bad Salzdetfurth die besseren Leihräder und ausreichend Höhenmeter gibt, starteten wir sozusagen vor der Haustür.

Einige Tage vor der Tour war ich unsicher, ob ich mich mit Schwiegersohn und Enkel in die Berge wagen soll. Beide sind, außer dass sie deutlich jünger sind als ich, auch sicherer und wagemutiger unterwegs. Bergauf kann ich sicher mithalten, aber bergab bremst mich die Erinnerung an einen heftigen Sturz vor einigen Jahren. Schrammen an Armen und Beinen und ein markantes Veilchen zeugten damals von einem unfreiwilligen Stopp. „Blinker“ nennen die Biker am Chiemsee leicht mitfühlend grinsend so ein Souvenier.

Es gelang mir, das Kopfkino auszuschalten, und so sind wir Sonntagmorgens mit bestens eingestellten Rädern gestartet. Der erste Singletrail ließ nicht lange auf sich warten. Bergauf mit der Unterstützung eines kräftigen Motors ist das gar kein Problem und es gab noch genug Puste, mal einen Blick über die Hildesheimer Berge zu wagen. Vom Gipfelkreuz am Tosmarberg ging es weiter abwärts nach Diekholzen und dann wieder rauf zum Hildesheimer Aussichtsturm. Meine beiden Mitfahrer waren sehr rücksichtsvoll und geduldig, wenn meine „Downhills“ länger dauerten. Aber die Bilder des längst vergangenen Crashs verblassten und ich wurde mutiger und etwas schneller. Dank der Ratschläge meines Enkels konnte ich sogar meine Fahrtechnik verbessern. Schön, wenn der Opa auch noch was lernen kann! Während der folgenden Kilometer mussten wir feststellen, dass sich die Akkus schneller als versprochen entleerten, obwohl wir die volle Unterstützung gar nicht nutzten. Bis zur Verleihstation schafften wir es mit dem sprichwörtlichen letzten Tropfen. Die Akkus wurden schnell getauscht, sodass wir zur zweiten Runde starten konnten. Vorher machten wir in Bad Salzdetfurth jedoch Rast bei „The Bridge“, einem urigen Irish Pub. Kühle Getränke, leckeres Essen und nette Leute. Wir haben wohl auch einen guten Eindruck hinterlassen. Bei meinen nächsten Besuchen im Pub wurde ich als der von der drei Generationentour begrüßt. Wir haben noch eine längere Runde oberhalb des Golfplatzes gedreht und sind dann zurück zum Bikepark geradelt. Während Enkel und Schwiegersohn sich auf den Strecken der Anlage austobten, habe ich dem Treiben lieber entspannt von einer Bank aus zugesehen. Ich hatte den Tag bisher unbeschadet überstanden und wollte mein Glück zuletzt nicht unnötig herausfordern. Als wir am Abend die Räder wieder zurückgaben, hatten wir mehr Höhenmeter als bei der angedachten Tour im Harz zurückgelegt. Alle Sorgen im Vorfeld haben sich aufgelöst und es hat unheimlich Spaß gemacht. Danke für das tolle Geburtstagsgeschenk!

 Juli 2023


 

Wendland – eine Region in Agonie?

 

Der Begriff Agonie bezeichnet eine Reihe von Erscheinungen im Sterbeprozess, die dem Tod unmittelbar vorausgehen. Bei unserem viertägigen Aufenthalt in Pevestorf, ganz in der Nähe von Gartow hatten wir manchmal den Eindruck, diesen Verlauf direkt mitzuerleben. Eine Gastronomie, die bereits den Betrieb eingestellt hat. Gastgeber, die noch ums Überleben kämpfen und trotz Engagement und Einfallsreichtum kein Licht am Ende des Tunnels sehen. Hoteliers, die scheinbar ohne Branchenkenntnisse sich in ein Abenteuer stürzen und konsternierte Gäste zurücklassen. Fährverbindungen, die seit Monaten eingestellt sind und Radfahrenden größere Umleitungen zumuten. In Dömitz eine Innenstadt, in der eine Vielzahl nicht renovierter Häuser das Bild prägen. Eine ganze Reihe von Ursachen und Gründen haben zu diesem Zustand beigetragen. Als ehemaliges Zonenrandgebiet war die Region benachteiligt. Grundsätzlich strukturschwach und von den Coronaeinschränkungen und der aktuellen wirtschaftlichen Situation zusätzlich gebeutelt. Dahinter verblasst leider eine reizvolle Landschaft entlang der Elbe die man auf gut ausgeschilderten Rad- und Wanderwegen erkunden kann. Ein Paradies für Vogelkundler und naturbegeisterte Menschen. Die für die Region typischen Rundlingsdörfer. Ich will hier nicht meckern. Es lohnt immer noch, das Wendland zu besuchen. Die kulturelle Landpartie, die Erinnerung an die Proteste gegen das Atommülllager Gorleben, das einmalige Stones Fanmuseum in Lüchow sind nur einige der kulturellen Streiflichter im morbiden Dämmerzustand. Ich kann keine klugen Ratschläge geben, komme aber doch wieder mal hierher zurück und würde mich sehr freuen, wenn diese Region wiederbelebt werden kann.

Juni 2023


 

Die Welt ist schön...

 

Es ist wie immer, jedes Jahr die gleiche Ungeduld. Das Warten auf mildes Frühlingswetter wird durch Tiefausläufer mit kalten, windigen und nassen Phasen auf eine harte Probe gestellt. Sobald es mild ist, kann ich dem Gras beim Wachsen zusehen. Die Frühblüher setzen erste Farbtupfer und das erste frische Grün der Sträucher entfaltet sich. Auch Mona ist nicht zu bremsen und beginnt in den zahlreichen Mauselöchern zu graben. Vom noch feuchten und klebrigen Lehmboden lässt sie sich nicht stören. Mit der ungestörten Winterruhe für die kleinen Nager ist es jetzt endgültig vorbei. Wer sich nicht schnell genug in Sicherheit gebracht hat, wird von Monas spitzen Zähnen ratzfatz in den Mäusehimmel befördert. Dass sie nach ihren Jagdzügen erst nach einer gründlichen Reinigung wieder ins Haus darf, nimmt sie dafür murrend in Kauf. Beim nächsten Schietwetter können sich alle wieder erholen und von den nächsten warmen Tagen träumen. Dann können mein kleinster Enkel und ich endlich wieder ein Lagerfeuer machen. Gemeinsam, ich mit der großen, mein Enkel mit der kleinen (echten) Axt Holz hacken, Anmachholz sammeln und darüber diskutieren, ob zum fünften Geburtstag eine echte kleine Axt das passende Geschenk sein kann. Wir haben vereinbart, dass ich das erst noch mal mit seinen Eltern und der Oma besprechen muss. Und während wir dann weiter gemeinsam vor uns hin werkeln bemerkt dieser fast fünfjährige Knirps so ganz nebenbei: „Opa, die Welt ist schön.“ Das ist, als würde diese Welt für den Augenblick still stehen, damit ich mir das noch mal hinter die Ohren schreiben kann, um es nicht so schnell wieder zu vergessen. Danke für diesen Augenblick.

April 2023

 


 ... in mir selber wohnen

 

 

Holder Schein, an deine Spiele

 sieh mich willig hingegeben;

 andre haben Zwecke, Ziele,

 mir genügt es schon zu leben.

 …

  

Es schon eine gute Gewohnheit, eine persönliche Tradition einmal im Jahr den Weg in die Stille zu gehen. Im Kloster Marienrode im Stile des Zen zu sitzen, zu hören und sich in der Bewegungsmeditation zu üben. Dazu von Freitagabend bis Sonntagmittag schweigen. Ich weiß vorher, dass mir irgendwann die Fuß- und Kniegelenke vom Stillsitzen schmerzen werden, ganz gleich, wie viel oder wenig ich im letzten Jahr geübt habe. Und obwohl ich keine selbstquälerischen Tendenzen habe, freue ich mich immer wieder auf dieses Sitzen.

 

Gleichnis will mir alles scheinen,

 was mir je die Sinne rührte,

 des Unendlichen und Einen

 das ich stets lebendig spürte.

 ….

 

Ich habe diese Art der Meditation nicht als Möglichkeit verstanden, an ein Ziel, an einen Endpunkt zu gelangen. Die irrige Vorstellung, eine Erleuchtung oder sonst einen übersinnlichen Zustand zu erlangen habe ich längst abgelegt. Es ist ein Weg, eine immerwährende Übung, im Augenblick zu sein. Ich kann nicht verlorenen Atem nachholen oder auf „Vorrat“ atmen. Der Atem ist immer im Jetzt. Mit der Hilfe des Atems kann ich versuchen, dem Gedankenkarussell für den Augenblick zu entkommen. Am Ende dieser stillen Zeit fühle ich mich entspannt, bereichert und motiviert für den weiteren Weg. Die Schmerzen sind längst vergangen und ich kann leichtfüßig in die Sonne hinausgehen.

  

Solche Bilderschrift zu lesen,

 wird mir stets das Leben lohnen,

 denn das Ewige, das Wesen,

 weiß ich in mir selber wohnen

(Bekenntnis – Hermann Hesse)

Februar 2023