"Das wirkliche Wunder besteht nicht darin, über das Wasser oder durch die Luft zu schreiten.

Es besteht ganz einfach darin, über diese Erde zu gehen."

 

  (Thich Nnat Hanh))

 

 


 

Anfang und Ende

 

Das alte Jahr verabschiedete sich bei mir mit meiner ersten Corona Erkrankung. Einen Tag vor Weihnachten gab ein Test jedoch grünes Licht, sodass die Feiertage nicht ohne mich stattfinden mussten. Hoffnungsvoll startete ich ins neue Jahr, trotzte dem Mistwetter und drehte hochmotiviert die erste Laufrunde. Hätte ich vielleicht nicht machen sollen, denn wenige Tage später lief die Nase wieder und kurz bevor ich zu meinem alljährlichen Schweigewochenende ins Kloster Marienrode aufbrechen wollte, stieg meine Körpertemperatur in den roten Bereich. Ein glatter Fehlstart. Unterstützt durch mieses Wetter verharrte mein Stimmungsbarometer in einem ortsfesten Tief. Heute, wo ich diesen Text schreibe, komme ich von einer Wanderung im Sonnenschein bei milden Frühlingstemperaturen zurück. In einem lichten Laubwald, der erfüllt von Vogelstimmen war, kann ich mich mit meinem holprigen Jahresbeginn versöhnen.

 

 

Einschlafen dürfen, wenn man müde ist, und eine Last fallen lassen dürfen, die man sehr lang getragen hat, das ist eine köstliche, eine wunderbare Sache.

(Hermann Hesse)

 

Ende Februar ist mein Schwiegervater im Alter von einhundert Jahren gestorben. Ein langes Leben, das zum Ende hin langsam aber stetig erlosch. Er blieb bis einen Tag vor seinem Tod in seinem Haus . In einer Patientenverfügung hatte er rechtzeitig geregelt, wie an seinem Lebensende verfahren werden sollte. So konnte er auch im Krankenhaus den letzten Schritt in Würde gehen. Wobei wirkliche Schritte zu gehen, ihm schon lange nicht mehr möglich war. Durch eine im Krieg erlittene Verwundung war er seit seinem neunzehnten Lebensjahr in seiner Mobilität eingeschränkt. Ich habe ihn als einen Menschen kennen gelernt, der dieses Schicksal angenommen hat. Er hat oft vom seiner Zeit als Soldat und der Verletzung erzählt, ich habe ihn jedoch nie klagen hören. In seiner ihm eigenen, mir oft umständlich erscheinenden Herangehensweise, hat mein Schwiegervater immer wieder Lösungen und Hilfsmittel gefunden, um mit seiner Behinderung zu leben. Als Dorfschullehrer hat er Generationen von Kindern geprägt. Aus Erzählungen weiß ich von seinem strengen Regiment, aber auch von seinem großem pädagogischem Gespür. Als fast Achtzigjähriger hat er sich einen Computer angeschafft, um damit die Chronik seines Dorfes zu verfassen. Er war der einzige mir bekannte Mensch, der sich das Computerwissen durch das penible Studium eines Handbuches angeeignet hat. Mit seinem skurril anmutenden Ordnungssinn hat er seinem näheren Umfeld oft Geduld und Langmut abverlangt. Für seine Enkel und Urenkel war er immer eine liebevolle Respektsperson, deren Rat gefragt war und manchem Lebenslauf die entscheidende Richtung gewiesen hat. Durch seinen langsamen Abschied und den deutlichen Phasen des Sterbens, hatten wir Angehörigen die Möglichkeit, jeder auf seine Weise, loszulassen. Besonders die drei Urenkel hatten die Chance, Fragen zu Sterben und Tod zu stellen. Den toten Urgroßvater im Sarg liegen zu sehen. Den kalten Körper zu berühren, das weiße Sterbehemd mit selbst gepflückten Gänseblümchen zu schmücken und letztlich die Urne in der Erde verschwinden zu sehen. Der Körper ist nicht mehr da und mit ihm verschwinden viele materielle Dinge eines langen Lebens. Aber wir haben eine kleine Sylvesterrakete, gefüllt mit guten Wünschen für die letzte Reise, in den Sonnenuntergang aufsteigen lassen und wir nehmen unsere individuellen Erinnerungen mit.

März 2024