"Rassismus nimmt dir alle deine Zeit, deine Energie, dein Geld.

Er ist so destruktiv, so sinnlos.

Er hat nie neue Erkenntnisse gebracht. Er ist eine ständige Variation seiner eigenen Blindheit.

Er ist eine Nicht-Idee, ein Vakuum."

 

  (Toni Morrison)

 

 


Sterben, Tod und Trauer

 

Tränen, hinter verschlossenen Türen vergossen. „Hast du gesehen, wie der geweint hat, und das vor allen Leuten.“

Oma ist eingeschlafen, Opa ist von uns gegangen. Begriffe, die für Kinder eine klare Bedeutung haben und die ohne Übersetzung irritieren und ängstigen können.

Still sein, keine Fragen stellen. Ein aufmunterndes „es wird schon wieder“ am Sterbebett. Trauer ist schwarz, darf nicht bunt sein. Und irgendwann ist es auch mal genug, das Leben muss ja weitergehen.

Das war meine Welt von Sterben, Tod und Trauer. Mit sechs Jahren aus Sicht meiner Erwachsenen zu klein, um an der Beerdigung meiner Großmutter teilzunehmen. In der Folge gruselte mich der Gedanke, dem Sterben zu nahe zu kommen. Auf Trauer- und Bestattungsrituale konnte ich mich nicht einlassen. Als mein Großvater starb, konnte ich weder am offenen Sarg noch am Grab Abschied nehmen. Als junger Erwachsener war ich überfordert mit dem Verlust und dachte,      meiner Trauer keinen angemessenen Ausdruck verleihen zu können.

Als viel später meine Tochter Angst vor dem Tod ihrer Lieblingsoma äußerte, konnte ich sie nicht trösten und die Furcht vor dem Verlust nicht nehmen. Meine eigene Unfähigkeit, mit der Endlichkeit des Lebens umzugehen, und damit auch die Unfähigkeit, meiner Tochter aus ihrer Not zu helfen, wurde mir schmerzlich bewusst.

 

So habe ich begonnen, mich dem Thema zu nähern. Es gibt eine unüberschaubare Fülle von Ratgebern, die über Sterbe- und Trauerprozesse aufklären. Weltanschauliche, religiöse oder spirituelle Sichtweisen und daraus abgeleitete Hilfsangebote werden angepriesen.

Über den theoretischen Weg fand ich jedoch keinen Zugang, wusste keine Fragen zu formulieren, die mir halfen, zu verstehen. Auf der Suche nach Alternativen stieß ich auf einen monatlich stattfindenden „Hospizstammtisch“. Dort traf ich auf Menschen, die über Sterben und Tod mit großer Selbstverständlichkeit sprachen. Die Sterbende begleiteten, Anteil nahmen und bei allem Mitgefühl nicht zu Trauerklößen geworden waren. Hinter der Ernsthaftigkeit nahm ich eine mutmachende Lebenslust wahr. Schließlich nahm ich an einem Vorbereitungskurs für Sterbebegleiter teil. Schwerpunkt war zuerst die Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit, die Fragen nach den Beweggründen, Menschen auf ihrem letzten Weg zu begleiten und die Grenzen der eigenen Fähigkeiten zu erkennen.

 Danach habe ich in der praktischen Begleitung Stück für Stück gelernt, mich den Herausforderungen zu stellen. Keine schöngeistigen Gespräche, kein „Händchenhalten“, sondern manchmal banal erscheinende Unterstützung war gefragt. Den dem Sterbenden nahestehenden Menschen praktische Tipps geben, Freiräume zum Atemholen verschaffen oder als Vermittler oder Übersetzer zwischen ihnen und der Hauptperson, dem / der Sterbenden da zu sein. Keinen Ablaufplan zu geben, sondern deutlich machen, dass Sterben so individuell wie das Leben ist und es kein richtiges oder falsches Sterben gibt. Und mich selbst im entscheidenden Moment zurückzunehmen in dem Bewusstsein, als Fremder einem der intimsten Momente des Lebens beizuwohnen.

 

In meiner Familie ist alles, was mit Sterben und Tod zu tun hat, kein Tabu mehr. Wir wissen um die Vorstellungen und Wünsche des Anderen und empfinden dieses Wissen als Erleichterung. Wie wir mit der konkreten Situation dann letztlich umgehen, werden wir sehen. Aber wir werden nicht unvorbereitet sein.

 

Nach einer längeren Auszeit habe ich meine ehrenamtliche Arbeit als Sterbebegleiter wieder aufgenommen. Die Teilnahme an einem „Letzte Hilfe Kurs“, in dem es um ganz praktische Hilfestellungen bei der Begleitung ging, war die erste Annäherung. Im Michaelis Hospiz, das im März dieses Jahres die ersten Gäste, so werden im Hospiz die Patienten genannt, aufgenommen hat, habe ich einen Ort und einen Rahmen für meine Mitarbeit gefunden. Einmal wöchentlich unterstütze ich für ein paar Stunden die Mitarbeitenden auf vielfältige Weise. Gespräche mit Gästen und ihren Zugehörigen. Hilfestellung beim Essen, das täglich frisch in der Küche zubereitet wird. Zuhören, versuchen zu trösten. Aushalten, dass die Frage nach dem „Warum“ nicht beantwortet werden kann.

 Zusehen, wie zerbrechlich das Leben sein kann, wie schwer und angstvoll die letzten Schritte sein können. Heiterkeit und Lachen im Angesicht der Endlichkeit zulassen.

Das Arbeitsklima im Hospiz macht mir den Wiedereinstieg in die Begleitung leicht. Die Mitarbeitenden geben mir das Gefühl, mit dem was ich einbringen kann, eine sinnvolle Ergänzung zu sein. Das macht es mir leichter, aus gut Gemeintem auch gut Gemachtes werden zu lassen.

 Mai 2025



Treue Weggefährten

 

Sie haben mich begleitet, auf der morgendlichen Hunderunde, beim Lauf durch den Wald und auf langen Wanderungen. Sie sind meine ersten Laufschuhe mit breiter Zehenbox und einem sogenannten Zerodrop, d.h. Vorfuß und Ferse sind auf gleicher Höhe.

 Nun sieht man ihnen die Mühsal an und sie haben sich den Ruhestand redlich verdient. Aber ich mag mich noch nicht endgültig von ihnen trennen und so werden sie mich noch einige Zeit bei der Gartenarbeit unterstützen.

 

Viele Jahre habe ich Einlagen getragen, um eine „Fußfehlstellung“ auszugleichen. Die Schmerzen wurden dennoch heftiger, nach jeder langen Strecke waren die großen Zehen blau unterlaufen. Eine Operation und noch mal besondere Einlagen sollten endlich Abhilfe schaffen. Eine Besserung konnte ich allerdings nicht wahrnehmen. Unbeschwert zu Fuß unterwegs sein, ein wesentlicher Teil meines Lebens, schien nicht mehr möglich zu sein. Aber aufgeben wollte ich nicht.

 

Nach ausgiebigen Recherchen und vielen schlauen Ratgebern lief ich zu Hause so oft wie möglich ohne Schuhe und wagte ich mich schließlich in Barfußschuhen nach draußen. Ein völlig neues und ungewohntes Laufgefühl! Und mein Körper rebellierte nicht gegen die ungewohnte Herausforderung. Natürlich hatte ich zuerst ordentlich Muskelkater, aber das wertete ich als gutes Zeichen. Für lange Strecken brauchte ich jetzt noch Schuhe mit einer guten Dämpfung. Zufällig stolperte ich beim Blättern in einem Reisbericht über ein Foto, auf dem jemand mit Altra Laufschuhen unterwegs war. Das könnte etwas für mich sein, dachte ich uns so kaufte ich mir schließlich ein Paar. Es folgten Schuhe von Topo Athletic und verschiedene Barfußschuhe.

 

Heute kann ich mir nicht mehr vorstellen, in anderen Schuhen zu gehen. Ich bin froh, nicht aufgegeben zu haben, nach Alternativen gesucht zu haben und heute wieder ein unbeschwertes Laufgefühl genießen zu können. Meine Erfahrungen sind sicher nicht repräsentativ, können aber vielleicht anregen, ausgetretene Pfade zu verlassen und sich auf Neues einzulassen.

 

Ich bekomme für diese „Werbung“ weder Geld noch ein Paar Gratisschuhe. Neben den Herstellern der Schuhe, die ich hier genannt habe, gibt es inzwischen eine Reihe weiterer Firmen, die ähnliche Schuhe anbieten. Wenn jemand jetzt neugierig geworden ist, kann ich auch den Blog von Alois Schöninger auf youtube empfehlen.

April 2025


Das Ende eines Weges

 

"Der Tod ist das Tor zum Licht

am Ende eines mühsam gewordenen Weges."

(Franz von Assisi)

 

Hände, die sich zu Fäusten ballen, sich öffnen und suchend über die Bettdecke streichen. Arme, die sich in die Höhe, dem Himmel entgegenstrecken. Augen, riesengroß geöffnet, die an die Zimmerdecke starren. Suchend, hoffend. Was erwarten sie zu sehen? Augen, auf mich gerichtet. Fragend, bittend, um Verzeihung bittend? Augen ins Nichts gerichtet, zuckend im Schmerz, sich vor Müdigkeit verschließend. Lippen, Silben formend, hauchend. Dann letzte klare Worte: “Bald haben wir es geschafft.“ Unruhe, die den Körper zu fahrigen Bewegungen zwingt. Fäuste, die nicht loslassen wollen. Atem, ganz leise, kaum wahrnehmbar und plötzlich wieder röchelnd erschreckend. Atem, der still steht, um dann doch wiederzukehren. Endlich wird der sichtbare Körper ruhiger, scheint sich zu entspannen, sich dem Weg fügend. Die Augen wie im Schlaf geschlossen, der Kopf zur Seite ins Kissen geneigt. Der Atem steht still. Der mühsame Weg ist zu Ende. Erleichterung scheint das Minenspiel zu entspannen.

 

Das Sterben meiner Mutter hat mich mehr berührt, als ich gedacht hatte, vor allem mehr als ich zulassen wollte. Das Abschiednehmen ist noch nicht vorbei. Ich habe noch ein Stück zu gehen.

 (März 2025